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HEINZ Magazin Dortmund 08-2016

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HEINZ Magazin August 2016, Ausgabe für Dortmund

Waldidylle adé!

Waldidylle adé! Indie-Produktion Amerikas neuester Superheld kommt nicht aus Hollywood. Mit seiner zweiten Regiearbeit, „Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück”, präsentiert Matt Ross ein Mannsbild ohne Superkräfte und ein Familienbild irgendwo ganz schräg zwischen Waltons, Waldläufer und Weather Men – jedenfalls das bizarrste Roadmovie seit „Little Miss Sunshine”. In der Hauptrolle ist Viggo Mortensen zu sehen. D as nennt man „off the grid”: Die Kinder heißen Bodevan, Kielyr, Vaspyr, Rellian, Zaja und Nai. Sie mögen weder Cola noch Hamburger, sie haben weder Handy noch Playstation, sie kennen weder Youtube noch Facebook. Dafür können sie in der Wildnis überleben, verachten den Kapitalismus und kennen die amerikanische Verfassung auswendig. Familienpatriarch Ben Cash ist ein echter Aussteiger. In den Bergwäldern von Oregon hat er für sich und seine Familie den Gegenentwurf zur amerikanischen Wirklichkeit geschaffen. Mit harter Hand erzieht er seine sechs Kinder zur geistigen und materiellen Unabhängigkeit. Dazu gehören knallharte Hängepartien in der Felswand und zitatsichere Kenntnisse der Philosophen, das Abendessen am Lagerfeuer der selbstgezimmerten Hütte – und die Verachtung des Systems. Doch dann erschüttert ein Schicksalsschlag das selbstzufriedene Miteinander in der Wildnis. Mit dem Tod der Mutter gerät die Familienkonstruktion aus dem Gleichgewicht. Für Ben Cash stellen sich zwei Fragen. Wie erklärt man den Kindern den Freitod der Mutter, die trotz aller Naturidylle an depressiven Schüben litt? Und zweitens, wie kann man der überzeugten Buddhistin ein angemessenes Begräbnis bereiten, wenn deren Eltern auf einer christlichen Bestattung bestehen? „Sich selbst treu bleiben”, lautet die Devise, und nun bekommen die Kinder eine Lektion in amerikanischer Realität. Im Wohnmobil geht die Reise aus dem grünen Nordosten in die Wüste New Mexikos, wo Bens Schwiegereltern den Amerikanischen Traum der konservativen Mittelschicht leben. 52 | HEINZ | 08.2016

MARS DISTRIBUTION, REGAN MACSTRAVIC MARS DISTRIBUTION, WILSON WEBB Die Freiheit steht im Wald – Wirre, Wilde und „Walden“ Während im Kino die baumlosen Prärien und die grenzenlose Weite des Westens den Sehnsuchtsraum Amerika beschreiben, bleibt der Wald immer noch Sinnbild der Freiheit, die die englischen Siedler einst jenseits des Atlantiks suchten. Es dauerte immerhin noch zwei Jahrhunderte, bis die Weißen in den „Wilden Westen“ vordrangen. Bis dahin mussten die ersten Kolonisten in den Wäldern des Ostens überleben lernen. Das gelang nicht immer und oft nur mit Hilfe der Waldindianer, woran heute noch Thanksgiving Day erinnert: Truthahn und Maisbrot lernten die Siedler erst in der Neuen Welt kennen. Die Natur wurde dann auch zum (Be-) Gründungselement der Vereinigten Staaten, von ihr leiteten die Philosophen der Aufklärung die politisch legitime Alternative zum Gottesgnadentum des Feudalismus ab. So verlor der englische König seine Kolonie und noch vor der Französischen Revolution wurde zwischen den Blockhütten der Siedler die erste moderne Republik gegründet. Als sich die weiße Zivilisation an der Ostküste etablierte, wanderte der Traum der Freiheit nach Westen in die Wildnis. Während die Indianer tatsächlich rücksichtslos verdrängt wurden, verklärte sie der Mythos zum edlen Wilden und beschwor das Ideal von der Natur. Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Henry David Thoreau mit „Walden oder Leben in den Wäldern“ das Manifest der Rückbesinnung auf die Natur. Der Selbsterfahrungsbericht eines Lebenssinnsuchenden aus einer abgelegenen Waldhütte wurde eins der einflussreichsten Bücher Amerikas. Die Naturschutzbewegung fand in Thoreau ebenso einen Vordenker wie Mahatma Gandhi und die Bürgerrechtsbewegung in seinen Ideen zum zivilen Ungehorsam. So wurde der Wald zum Rückzugsgebiet der Freiheit für Hippie- Aussteiger wie Captain Fantastic. Aber nicht nur für zivilisationskritische Weltverbesserer, sondern auch für diverse ultrarechte Milizen, die sich die amerikanische Freiheit aufs Banner ihrer bizarren Wehrsportgruppen geschrieben haben. Der Schauspieler Matt Ross, der bisher mit seinem Affären-Tagebuch „28 Hotel Rooms“ auch als Regisseur hervorgetreten ist, wechselt in seiner zweiten Regiearbeit nun zum Roadmovie. Die unkonventionelle Reisegesellschaft erinnert mit diversen komischen Einlagen – nicht nur wegen einer Leiche als Passagier – an die schräge Expedition von „Little Miss Sunshine“. Der späte Auftritt der buntgemischten Truppe in der Friedhofskapelle lässt an das spektakuläre Veto in der Trauung von „Die Reifeprüfung“ denken. Und der Superheld Captain Fantastic? Wenn das überhaupt der von Viggo Mortensen gefühlvoll gespielte Familienchef sein soll, dann erkennt er, dass er sich irgendwie mit dieser verpönten Gegenwelt arrangieren muss. Da ist sein Sohn Bodevan, der heimlich die Annahme-Schreiben von sämtlichen Elite-Unis hortet, aber mit dem ersten Liebeserlebnis völlig überfordert ist. Der kleine Rellian würde lieber mit seinen Cousins Killerspiele an der Konsole zocken als weiter mit dieser amerikanischen Kelly-Family herumzuziehen. Und schließlich droht der verbitterte Schwiegervater Jack, den Witwer seiner Tochter und Vater seiner Enkel verhaften zu lassen. Keine guten Aussichten, um irgendwie an die Asche der Verstorbenen zu kommen, die bestimmungsgemäß verstreut sein soll. Auch für dieses Problem findet das Drehbuch von Matt Ross eine vordergründig versöhnliche, aber hintergründig rabenschwarze Lösung. Sein „Captain Fantastic“ bleibt eine verschrobene Mischung aus Musterpapa und Sozialrebell im Spannungsfeld des Amerikanischen Traums zwischen Vision und Realität. philipp koep ❚ (CAPTAIN FANTASTIC) USA 2016, 118 Min., Regie u. Buch: Matt Ross, mit: Viggo Mortensen, Steve Zahn, Frank Langella, Missy Pyle, Kathryn Hahn, George McKay, Samantha Isler; Start: 18.8. „Mehr Frauen geht kaum, mehr Almodóvar auch nicht.“ SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Ein Film von Almodóvar www.julieta-derfilm.de Ab 4. August im Kino 08.2016 | HEINZ | 53

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